Pferde verfügen über eine hochsensible Wahrnehmung ihrer Umwelt. Als Beutetiere haben sie über Jahrtausende hinweg Sinne entwickelt, die ihnen helfen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und schnell zu reagieren. Ihre Sinneswahrnehmungen unterscheiden sich deutlich von denen des Menschen, und genau hier liegt der Schlüssel zum Verständnis. Denn viele Verhaltensweisen, die uns Menschen oft rätselhaft erscheinen, sind einer unterschiedlichen Wahrnehmung geschuldet. Und diese Tatsache führt oft zu Missverständnissen bis hin zu einem unfairen oder groben Umgang mit dem Pferd. In diesem Artikel werfen wir einen Blick darauf, wie Pferde die Welt wahrnehmen und was das für das gemeinsame Training bedeutet.

Die Perspektive des Pferdes

Pferde haben feinere Sinne und eine andere Wahrnehmung als wir Menschen. Ihr weiteres Sichtfeld, die Beweglichkeit ihrer Ohren und ihre feine Nase ermöglichen es ihnen, Dinge wahrzunehmen, die uns verborgen bleiben. Diese sensorischen Unterschiede sind entscheidend, um das Verhalten von Pferden richtig zu verstehen. Wenn ein Pferd scheinbar unerklärlich reagiert, könnte der Grund in einer Wahrnehmung liegen, die für uns schlichtweg nicht wahrnehmbar ist.

Sehen: Ein Weitwinkelblick auf die Welt

Das Sehen ist ein sehr wichtiger Sinn für Pferde, doch ihre visuelle Wahrnehmung unterscheidet sich stark von unserer. Während wir Menschen ein Sichtfeld von etwa 90 Grad haben, können Pferde mit ihren seitlich platzierten Augen ein Panorama-Sichtfeld von rund 340 Grad wahrnehmen. Dadurch können sie fast alles um sich herum sehen, ohne den Kopf zu bewegen. Sind wir beispielsweise im Geländer unterwegs, müssen Pferde deutlich mehr visuelle Eindrücke verarbeiten als wir. Es kann also leicht passieren, dass Pferde auf einen Reiz reagieren, den wir noch gar nicht gesehen haben, weil er außerhalb unseres Sichtfeldes liegt.

Diese weite Sichtfeld hat nicht nur Vorteile. Pferde haben Schwierigkeiten, Entfernungen seitlich genau einzuschätzen, da ihnen in diesen Bereichen das räumliche Sehen fehlt. Sie sind außerdem weitsichtig, was bedeutet, dass sie in der Ferne besser sehen als direkt vor sich. Der Bereich unmittelbar vor ihrer Nase ist für sie unscharf. Reiten wir also auf ein Hindernis zu, wird es für Pferde zunehmen schwieriger, dieses klar zu erkennen und je nach Kopf- und Halsposition kann etwas schnell gänzlich im toten Winkel verschwinden.

Zusätzlich reagieren Pferde stark auf Bewegungen – viel stärker als wir Menschen. Als Beutetiere waren sie darauf angewiesen mögliche Angreifer frühzeitig wahrzunehmen. Während wir Bewegungen nur dann wahrnehmen, wenn sie direkt in unserem Blickfeld geschehen und eine gewisse Ausprägung haben, erkennen Pferde selbst kleinste Bewegungen, die uns entgehen. Pferde können also vor Bewegungen in der Ferne erschrecken, ohne dass wir überhaupt in der Lage sind, diese wahrzunehmen. Da dies instinktiv geschieht, ist dies kein Ungehorsam und sollte nicht bestraft werden.

Was die Farben betrifft, sind Pferde rot-grün-blind, nehmen jedoch Blau- und Gelbtöne gut wahr. Auf Basis dieser Farbwahrnehmung wurde auch das System der Dualaktivierung entwickelt. Ein weiterer wichtiger Unterschied: Pferde brauchen deutlich länger als Menschen, um sich an veränderte Lichtverhältnisse anzupassen. Ein plötzlicher Wechsel von hell zu dunkel oder umgekehrt, etwa beim Betreten einer Stallgasse oder eines Pferdehängers oder beim Verlassen der Reithalle, kann daher für sie beängstigend sein. Erst nach bis zu dreißig Minuten haben sich ihre Augen gänzlich an die veränderten Lichtverhältnisse angepasst. Das heißt, sie können bei starken Lichtveränderungen kurzzeitig nahezu blind sein. Wenn Pferde mit uns trotzdem solche Orte betreten bzw. verlassen, ist dies ein großer Vertrauensbeweis. Und wenn sie einen Moment brauchen, bevor sie die Stallgasse, den Hänger oder die Reithalle betreten, sollten wir ihnen diesen zugestehen.

Geruch: Eine Fülle an Informationen

Wahrnehmung von Pferden: Riechen

Der Geruchssinn eines Pferdes ist außergewöhnlich fein und mit dem von Hunden vergleichbar. Pferde können durch das Riechen viele Informationen aufnehmen, die für uns Menschen unsichtbar bleiben. Beispielsweise können Pferde einfach nur durch Schnuppern in der Luft wahrnehmen, wo Wasser zu finden ist, ob es einen Menschen kennt oder nicht, ob Artgenossen in der Nähe sind und in welche Richtung es nach Hause geht. Es kann auch schnell passieren, dass Pferde beim Ausritt an einer Stelle Wildschweine erschnuppern und nicht weitergehen wollen.

Sie sind auch in der Lage, durch das Schnuppern an einem Äppelhaufen zu erkennen, welches Pferd ihn hinterlassen hat und wie es sich zum Zeitpunkt der Ausscheidung gefühlt hat. Für Pferde ist es normal und natürlich ihre Welt durch den Geruchssinn zu erkunden und ihnen diese Möglichkeiten auch im Training gelegentlich zu geben, ist nicht verwerflich. Manche Pferde lassen sich durch gezielte Gerüche im Training beispielsweise beruhigen.

Pferde können Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol bei anderen Pferden und auch bei Menschen riechen. Nur anhand des Geruchs können Pferde also eine Menge über unseren emotionalen Zustand herausfinden. Nur oberflächlich entspannt zu sein oder eine ruhige Fassade aufrecht zu erhalten, funktioniert gegenüber Pferden nicht, da sie uns leicht durchschauen und unsere wahren Emotionen erschnüffeln können.

Hören: Bewegliche Ohren für leise Töne

Pferde haben ein größeres Hörfeld als Menschen und können Frequenzen wahrnehmen, die außerhalb unseres Hörvermögens liegen. Ihre Ohren sind äußerst beweglich und können unabhängig voneinander gedreht werden, um Geräusche aus verschiedenen Richtungen zu orten. Allerdings haben Pferde Schwierigkeiten, die genaue Quelle eines Geräuschs zu bestimmen, da ihr Hörsinn zwar weit reicht, aber weniger präzise in der Richtungserkennung ist. Deshalb nutzen sie für die Ortung von Geräuschen ergänzend oft ihren Sehsinn und schauen sich um. Ein Pferd daran zu hindern, sich nach einem Geräusch umzuschauen, um genau herauszufinden, von wo es kommt und die Gefahr einzuschätzen, kann dazu führen, dass ein Pferd ein Geräusch erst recht als potentielle Gefahr einschätzt. Das Risiko für Nervosität, Scheuen oder Flucht steigt.

Pferde reagieren auch oft empfindlich auf plötzliche, laute oder unbekannte Geräusche. Dies liegt an ihrem natürlichen Fluchtinstinkt, der bei ungewohnten Geräuschen sofort aktiviert wird. Denn jedes unbekannte Geräusch stellt eine potentielle Gefahr dar. Und da Pferde nicht nachdenken und einen Reiz zuerst analysieren, sondern sofort und instinktiv reagieren, suchen sie ihr Heil meist in der Flucht.

Fühlen: Sensible Haut für sanfte Berührungen

Wahrnehmung von Pferden: Fühlen

Die taktile Wahrnehmung eines Pferdes ist extrem fein. Pferde können selbst das Gewicht von nur drei Sandkörnern am Widerrist wahrnehmen. Um das ins Verhältnis zu setzen: Ein Mensch mit der taktilen Sensibilität eines Pferdes könnte fünf unsichtbare Löwenzahnsamen spüren – was wir definitiv nicht können. Diese Empfindlichkeit zeigt, wie gut Pferde Berührungen wahrnehmen können. Nicht umsonst merken sie auch kleinste Fliegen durch das Fell hindurch.

Berührungen und Druck sind für Pferde eine wichtige Kommunikationsform, sowohl untereinander als auch im Umgang mit Menschen. Ihre Haut ist sehr empfindlich, besonders an Bereichen wie dem Gesicht, den Flanken und dem Rücken. Wenn wir mit einem Pferd kommunizieren wollen, ist also nicht viel Druck notwendig, damit das Pferd das Signal wahrnimmt. Wenn ein Pferd nicht reagiert, sollte der Grund eher woanders gesucht werden, als in der Berührungsempfindlichkeit seines Pferdes.

Was bedeutet das für das gemeinsame Training?

Das Verständnis für die Wahrnehmung der Pferde ist essenziell, um erfolgreich mit ihnen zu kommunizieren.

  1. Sei dir der anderen Wahrnehmung deines Pferdes bewusst: Bedenke immer, dass dein Pferd Dinge wahrnehmen kann, die dir entgehen – sei es durch Sehen, Hören oder Riechen. Wenn dein Pferd scheinbar unerklärlich reagiert, denke daran, dass es vielleicht etwas wahrgenommen hat, was du nicht bemerken kannst und dass Pferde oftmals instinktiv und nicht logisch reagieren. Reagiere deinem Pferd gegenüber deshalb nicht unfair oder grob, sondern versuche, so gut es geht, seine Perspektive einzunehmen.
  2. Lerne die Sinnes-Vorlieben deines Pferdes kennen: Beobachte, auf welche Sinne dein Pferd besonders sensibel reagiert. Oftmals reagieren Pferd auf bestimmte Sinne eher gestresst, z.B. viele Umgebungsgeräusche oder auch visuelle Ablenkungen, während andere Sinne das Pferd eher beruhigen, wie z.B. Berührungen oder ein langes Schauen dürfen. Und finde heraus, welche Sinne für dein Pferd besonders wichtig zur Informationsaufnahme sind.
  3. Nutze die verschiedenen Sinneskanäle bewusst: Wenn du mehr über die Sinnes-Vorlieben deines Pferdes erfahren hast, kannst du dein Training entsprechend anpassen. Reagiert dein Pferd beispielsweise schnell gestresst auf Berührungen, setze die Gerte als optische Hilfe ein und weniger als taktile Hilfe und verzichte eher auf Streicheleinheiten. Mag dein Pferd hingegen Berührungen, lobe es durch Kraulen an seinen Lieblingsstellen. Schnuppert dein Pferd gerne und kommt dadurch zur Ruhe, lass es zum Trainingsbeginn und in den Pausen den Reitplatz abschnüffeln.

Indem wir uns der feinen Wahrnehmung unserer Pferde bewusst werden, können wir nicht nur Missverständnisse vermeiden, sondern auch eine tiefere und vertrauensvollere Beziehung aufbauen. Diese Erkenntnisse machen dein Training effektiver und bereichern dein Miteinander mit deinem Pferd.